Raoul Schrott

Foto: Peter-Andreas Hassiepen


  • geboren 1964
  • aufgewachsen in Tunis und Tirol
  • 1978 erste Schreibversuche
  • Studium (Literatur- und Sprachwissenschaft)
  • 1986-87 Sekretär des Surrealisten Philippe Soupault
  • 1988 Promotion zum Dadaismus
  • 1989 erste Gedichtveröffentlichung »Makame«
  • 1990-93 Lektor für Germanistik am »Istituto Orientale« in Neapel
  • 1996 Habilitation mit einer Arbeit über vergleichende Poetik in Innsbruck
  • freier Schriftsteller, Übersetzer, Nachdichter, Sprachforscher, Archäologe der Poetik und vergessener Poesietraditionen

Raoul Schrott: Tropen. Über das Erhabene

Foto: Jens Tremmel, Marbach

Ilma Rakusa
WAHRNEHMUNG, WISSEN, POESIE

Ich halte Raoul Schrott, trotz seiner stupenden, vielsprachigen Gelehrtheit, für einen Dichter der Anschauung, der seine Impulse aus präzisen Situationen gewinnt. So sind die Ortsangaben unter den Gedichten seines Bandes Tropen keinerlei Bluff. Ob Saint Jean les Jumeaux oder El Alamein, ob Annweiler oder Gabroon, ist wichtig – als Fadenkreuz einer kurzen Epiphanie oder schlicht als Vergewisserung, Erdung, Konkretion. Die Reiseerfahrung hat ihr eigenes spezifisches Gewicht und geht jeder literarischen Umsetzung voraus. Nicht zufällig zitiert Schrott (in seiner Grazer Poetikvorlesung) Thoreaus Diktum: Man muss zuerst zum Leben aufstehen, bevor man sich niedersetzt zum Schreiben. Mithin Weltaneignung als Primärakt, dem das Metier der Wortfindung folgt – prozesshaft und spontan, momentilluminiert und traditionsbewusst. Im Doppelsinn von Tropen wird die Liaison manifest: zwischen Geographie und Rhetorik, zwischen der Natur und ihrer künstlerischen Beschwörung. Indes sind die Analogien nie perfekt, entsteht gerade aus den Brüchen und Differenzen poetischer Zündstoff. Schrotts Erhabenheitsbegriff fungiert als solche kreative Leerstelle, an der sich sein Schreiben abarbeitet – und im Glücksfall transzendiert. Der selbsterhobene Anspruch ist hoch: er gilt der Beschreibung der Wüste ebenso wie jener von Einsteins Relativitätstheorie, er spiegelt die Sehnsucht nach einem homo-universalischen Zugriff in einer Zeit forcierten Spezialistentums (im Wissenschaftsbereich) und subjektiver Nabelschau (in den Künsten). Schrott strebt nach nichts weniger, als die Welt zu erzählen – ausgehend von einem Lichtreflex, von einer Wüstenszenerie, von einer historischen Reminiszenz. Und dass er – als hochbegabter Verwandlungskünstler und Dichter-Narr – auch mal in die Rolle von Newton, Galilei oder Michelangelo schlüpft, dass er ein Poem über die Gebirgsfront 1916-1918 schreibt, zeigt nur, wie sehr es ihn zu Horizonten außerhalb der eigenen Befindlichkeit zieht. Ob Naturlyrik, Gedankenlyrik oder Wissenschaftslyrik – Schrott bricht aus subjektiven Rastern aus, sucht nach Zusammenhängen, indem er die Vertikale von Historie und Mythos an die Horizontale mannigfaltiger geographischer Räume koppelt. Sein persönlicher Beitrag liegt dabei in der Art und Weise, wie er das tut, während seine Person unauffällig im Hintergrund bleibt.

Der Enzyklopädiker und der Erotiker kommen sich nicht nur nicht in die Quere, sie sind eins. Denn alles ist (auch) eine Frage der Optik, der Perspektive. Wenn das Nildelta vom Flugzeug aus wie ein Akrostichon erscheint und die Spur des Mondes sich am blauen blatt der nacht mit dem blinken der positionslampe überlagert, dann vermischen sich Wahrnehmung und Wissen zu einem Dritten: Poesie. Und glücklich darf sich der Leser schätzen, der auf den Längen- und Breitenkreisen von Schrotts Poesie unterwegs ist: er lernt viel, nicht zuletzt und immer wieder – das Staunen. Jawohl, am abgewrackten Ende dieses Jahrhunderts. It’s never too late. Es ist nie zu spät für die Poesie.

(Aus: Ilma Rakusa, Laudatio auf Raoul Schrott, 1.4.1999)