Brigitte Oleschinski

Foto: Heinz Wurzer


  • geboren 1955 in Köln
  • Studium (Politikwissenschaft)
  • 1993 Promotion zur Geschichte der deutschen Gefängnisseelsorge 1918-1945
  • 1990 erster Gedichtband »Mental heat control«
  • ab 1991 Arbeit als Zeitgeschichtlerin, Forschung und Publikationen zum Thema der staatlichen Gewaltausübung in der Strafjustiz
  • 1992 Beteiligung am »Forum für Aufklärung und Erneuerung« in Leipzig zur Aufklärung und Aufarbeitung der DDR-Unrechtsgeschichte
  • 1992-97 Gedichte und poetologische Essays in Zeitschriften
  • 2004 erscheint der Gedichtband »Geisterströmung«

Brigitte Oleschinski: Your Passport is Not Guilty

Foto: Jens Tremmel, Marbach

Helmut Böttiger
ETWAS LEERES, ETWAS STILLES

Die Gedichte sind mitten unter uns, sie nehmen die Eindrücke dieser Zeit auf, ihre Schnelligkeit, aber sie haben Geduld. Sie legen die Sinneseindrücke übereinander. Sie zerlegen einzelne Augenblicke in ihre Bestandteile, wie mit der Lupe vergößert. Das verfremdet die Augenblicke, wie wenn man ständig einen Film stoppt und seine einzelnen Bilder pro Sekunde festhält – Bilder, die man im Lauf des Films als solche gar nicht wahrnimmt.

Es mag sein, daß diese Lyrikerin mit 16 und 17 auch schon Gedichte geschrieben hat. Doch von diesen Gedichten erfahren wir nichts. Wir treten nie ein in eine Szenerie, in der wir uns wiederfinden. Die ersten Begegnungen mit Lyrik waren für Brigitte Oleschinski, so hat sie es einmal erzählt, Litaneien, ein Balladenton, wenn der Vater zur Gitarre sang – das mag der Ursprung dafür sein, daß Rhythmus und Sprache für sie zusammengehören.

Danach aber hatte sie lange nichts mehr mit Gedichten zu tun. Das mag ein Reflex auf die Politisierung von Literatur gewesen sein, in der Gedichte eher als Fluchtbewegungen wahrgenommen wurden. Doch in dieser Zeit, in der sie sich auf das politische Engagement konzentriert hat, muß sich langsam etwas angereichert haben.

Der einzelne Augenblick wird festgehalten und vergrößert sich, der Film wird gestoppt. Das Erfahrene geht völlig durch das wahrnehmende Ich hindurch und setzt sich als das Fremde in ihm fest, als das Gedicht. Etwas Leeres, etwas Stilles bleibt zurück, wie es schon in einem der frühesten zugänglichen Gedichte heißt – kein Einverständnis, kein eindeutiges Gefühl. Es geht darum, Spuren zu verwischen. Und das scheint in Widerspruch zur beruflichen Tätigkeit dieser Lyrikerin zu stehen. In den letzten fünf Jahren hat sie in Torgau an der Elbe ein Dokumentations- und Informationszentrum zur Geschichte der Gefängnisse und Haftstätten am Ort mitbegründet, das die Menschenverachtung in zwei aufeinanderfolgenden Unrechtsregimes zeigt. Auf diesem Feld gilt es, Spuren zu sichern.

Es ist nicht nur ein einfaches Paradoxon, daß dies derselbe Vorgang ist wie in den Gedichten. Die Sprache reinigt sich in ihnen von Fremdbestimmung, von der landläufigen Rede; sie hält sich von jeder Benutzeroberfläche fern. Die Sprache dieser Gedichte dient nicht der Ablenkung. Sie ist zwar getragen von Leichtigkeit, von etwas Schwebendem, aber sie hat mit dem Spaß, der heute alle Medien durchdringt, nicht das Geringste zu tun: mit jener fast wütenden Heiterkeit, welche die Herrschaftssprache von heute ist.

Die politische Reflektion, das Studium der Politologie: das muß für diese Art, Gedichte zu schreiben, äußerst wichtig gewesen sein. Der private Obsessionscharakter, den Gedichte oft haben, ist dabei kein Thema. Aber einmal in einem Vorgarten, im neuen deutsch-deutschen Land, das auf seltsame Weise gegenwärtig ist in diesen Gedichten, geht es um Champignonköpfe. Um Spargelkerzen, um einen Staketenzaun. Und dann endet das Gedicht: Warum / nickt diese Ordnung und nickt und nickt.

Man schreibt heute keine Gedichte mehr, man weiß zuviel: an diesem Punkt fangen die Gedichte Brigitte Oleschinskis an. In den Gedichten selbst, nicht in dem Reden darüber, wird die Welt in Frage gestellt. Erst dann bröckeln die Selbstverständlichkeiten, wird der Boden unter den Füßen unsicher und gibt nach. Und genau dort befinden wir uns.

(Aus: Helmut Böttiger, Laudatio auf Brigitte Oleschinski, 3.4.1998)