Foto: Jens Tremmel, Marbach
Sibylle Cramer
SPRACHATLAS DER GEGENWART
Erprobung herzstärkender Mittel und geschmacksverstärker lauteten 1986 und 1989 die Losungen Thomas Klings, lauteten seine programmatischen Signale, als er mit den gleichnamigen Gedichtbänden den Grundstein für sein Werk legte. Aber der Begriff „Geschmacksverstärker“ verwandelt sich im Schlußvers des Gedichts „Stollwerck: Köln 1920“ in eine banale Bestellformel, die sich auf den „letzten konkreten Kalauer“ bezieht: „Bitte mit Geschmacksverstärker“. Die Programmfahne wird nicht gehißt sie wird entwertet und demontiert. Ein bedeutender Lyriker des 20. Jahrhunderts meldet sich zu Wort, aber er ignoriert, was die Geschichte der modernen Kunst prägt: ihr Fortschrittspathos, die Dynamik von einander ablösenden Kunstevangelien, die bis in sechziger und siebziger Jahre hereinreicht, als Enzensberger und Rühmkorf gegen das hermetische Gedicht mobilmachten, und die Konkreten ihre Materialschlachten gegen die Mimetiker führten, zuletzt noch vor wenigen Jahren als Nachhutgefecht Franz Josef Czernins gegen Durs Grünbein. Der Moderne als Stilprozeß kehrt Thomas Kling den Rücken. Wenn er den Begriff in den Mund nimmt, zitiert er Nietzsches Äußerung über die „Energie der Zeichen“ in den Oden des Horaz. Er ist ein Neutöner, aber er ist kein Sezessionist.
Seine Manifeste sind seine Gedichte, mit denen er sich als Gestalt der künstlerischen Synthese zu erkennen gibt, als bündelnder, verschmelzender Wortgeist...
Zu Thomas Klings Materialien gehört die Kernseife wie das Werk des amerikanischen Kunstmetaphysikers Barnett Newman, der Verkehrsfunk wie der Minnesang, die Busladung, Matratzen, Jogger, Altenpflegeheime, Tierlabore wie der kranke Hölderlin, wie Trakl, Paul Celan, das Bildnis der Hl. Lucia, Joseph Beuys’ Rheinüberquerung oder die Bilder Palermos. Auf Reisen findet er es, die immer auch Sprachreisen sind, Reisen zu Sprachen, ob sie in die nächste Türkenkneipe oder nach Rom führen, auf die Uferauen des Rheins, Schrebergartenfeste, unter die Silberpudel und Regenhäute auf der Düsseldorfer Kö oder vor den Isenheimer Altar, in die Frick Collection oder die St. Petersburger Eremitage.
Der enge Zeitbezug macht sein Werk zu einem schier unerschöpflichen, zwischen Groteske, Karikatur und großer Schönheit schwankenden Bilderbuch zeitgenössischen Lebens und zu einem immens reichen Sprachatlas der Gegenwart. Aber je hiesiger, dem Moment, dem Flüchtigen, Zufälligen, Banalen zugewandt seine Gedichte sind, desto radikaler ist der künstlerische Umwandlungsprozeß. Wahrnehmung und die Konkretheit des ästhetischen Werks trennt ein Transformationsprozeß, der den Augenblicksstoff härtet, indem er ihn, internen Kunstgesetzen gehorchend, tomographisch zerlegt, verbrennt, seziert. In seinem Gedichtband morsch stellt er die Latenzphase künstlerischer Produktion dar. Aber der Kunstakt verwandelt sich in ein Naturschauspiel. Der Wirkzusammenhang aus expressiven Energien, Gedächtnis und Bildidee, Erinnerung und Imagination, kurzum der Aufstieg der Wahrnehmung zur gesteigerten Wahrnehmung des inneren Auges verwandelt sich in einen Bach, der vom Felsen herabstürzt.
(Aus: Sibylle Cramer, Laudatio auf Thomas Kling, 3.4.1997)