Durs Grünbein

Foto: Markus Decker


  • geboren 1962 in Dresden
  • 1974 erste Schreibversuche
  • abgebrochenes Studium (Theaterwissenschaft)
  • Dienst in der Nationalen Volksarmee der DDR
  • Autodidakt (Neurologie, Quantenphysik und Philosophie)
  • ab 1985 eigene literarische Arbeiten (Lyrik, Essays, Übersetzungen)
  • veröffenticht in der DDR erste Gedichte in »Sinn und Form» 1988
  • 1988 erster Gedichtband »Grauzone morgens«
  • Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern, Fotografen, Performance-Künstlern
  • seit 2005 Professor für Poetik an der Kunstakademie Düsseldorf
  • 2012 erscheint Gedichtband »Koloß im Nebel«

Durs Grünbein: Falten und Fallen

Foto: Jens Tremmel, Marbach

Iso Camartin
DIE ANATOMIE UND DAS LEBENSGEFÜHL

Ich war für einige Tage der Ansicht, der allerbeste Leser von Falten und Fallen wäre vermutlich Diderot gewesen. Er war in der Mitte seines Jahrhunderts der Meinung, Anatomie und Physiologie seien Teile der Wissenschaft, die man nicht einfach fortschreiben könne, sondern die, aufgrund des Wissens der Zeit, vollkommen neugeschrieben werden müßten. Jeder solle seinen Körper kennen, sagt er gegen die anderslautende Meinung der Theologen und fügt listig hinzu: zu sehen, wie dieser Körper gebaut und geordnet sei, wie kunstvoll seine Teile ineinandergreifen und sich ergänzen, die Teile der allerschönsten Maschine, die die Schöpfung kenne, dies könne doch nur den Glauben an ein allmächtiges Wesen stärken! Freilich – so der das Diesseits nie unterbewertende Diderot – sei dabei ebenso wichtig, die Gründe zu kennen, weshalb einer sich wohl oder schlecht fühle.

Genau hier ist nun Durs Grünbein – im Praktizieren der Vivisektion, in der Beobachtung der sichtbaren Reflexe und der lokalisierbaren Reize – ein treuer Vollstrecker des Diderot’schen Anatomie-Programms. Das war es ja, was Diderot gegen die dogmatischen Kadaver-Sezierer seiner Zeit einzuwenden hatte: daß sie nur Augen für das tote Material, nur die Leidenschaft für erstarrte Materie hatten. Daß sie sich nicht auf den Schnitt am Lebendigen verstanden, wo das Zucken, das Beben, das Pulsieren, das Fließen zu sehen, und wenn nicht zu greifen, so doch zu begreifen war.

Diderot hätte sicherlich gleich einen Hilfsassistenten angestellt, um ein Register anzufertigen über alles anatomisch Relevante in Grünbeins Gedichten. Wenn ich mich auf den ersten Teil, auf Variation auf kein Thema, beschränke und keine Vollständigkeit anstrebe, könnte dieser Index etwa so lauten:

Adern, Bauchhöhle, Bein, Blut, Brust, Eingeweide, Finger, Fleisch, Geschlecht, Haare, Haut, Herz, Kehle, Kniekehle, Leiche, Lidschlag, Mark, Muttermal, Nabel, Nagel, Nerv, Pulsschlag, Rippe, Schädel, Schlagader, Wunde, Zähneknirschen, Zunge..

Wieviel Körper auf wenigen Seiten! Was da alles blutet, röchelt, tropft, atmet, tastet, sich spreizt, sich abschält, aufspringt, gestillt wird! – Natürlich ist es dummes Zeug, so über Gedichte zu reden, wie ich es gerade tue. Und doch – ich kann nichts dafür: Es ist diese anatomische Werkstatt, dieses Experiment mit Bestandteilen des Körpers, diese Grünbeinsche neue Sensibilität und Professionalität für den sprachlich scharfen Schnitt am Lebendigen, was mich von Anfang an für diese Gedichte so eingenommen hat.

(Aus: Iso Camartin, Laudatio auf Durs Grünbein, 3.4.1995)