Sarah Kirsch

Foto: Heinz Wurzer


  • geboren 1935 als Ingrid Bernstein in Limlingerode/Südharz, gestorben am 05.05.2013 in Heide (Holstein)
  • Studium (Biologie)
  • als Diplombiologin Studium am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig
  • 1967 erster Gedichtband »Landaufenthalt«
  • veröffentlicht seit 1966 Gedichtbände, Kinderbücher, Theaterarbeit, Erzählungen, Schallplatten
  • 1968 Umzug nach Ostberlin
  • 1977 Ausschluss aus dem DDR-Schriftstellerverband und Übersiedlung nach Westberlin
  • zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis 1997 und Jean-Paul-Preis 2005
  • 2002 wird in Limlingerode in ihrem Geburtshaus eine Dichterstätte eröffnet
  • 2013 verstorben

Sarah Kirsch: Erlkönigs Tochter

Foto: Jens Tremmel, Marbach

Peter Horst Neumann
AUFMÜPFIG, NIE GANZ GEHEUER

Erlkönigs Tochter - der Titel ist zauberhaft, in jeder Bedeutung diese Wortes. Er hat einen Zug ins Dämonisch-Verführerische und verführt auch zum Lesen. Zaubersprüche hieß ein früherer Band, und auch Titel wie Katzenleben oder Erdreich hatten die Aura des nicht ganz Geheueren. Dieser aber ist wie ein Wetterleuchten, hervorgerufen durch zwei zitierte Worte: ein poesiegeschichtlicher Horizont (dänische Volkspoesie, Herder, Goethe) leuchtet auf. Wenn man sie beim Lesen wiederfindet, sind diese zwei Worte so vollkommen ins Gedicht eingegangen, daß zwischen dem eigenen und dem Zitat kein Unterschied mehr besteht – ein Augenblick großer Poesie.

Nebel und Watt bezeichnen den düsteren Ort eines Zusammentreffens, ernsthafte Verabredung genannt, und es wird auch geritten: je ein Reiter bei Herder und Goethe; hier aber sind es zwei Reiter, die apokalyptischen, zu denen die Erlkönigstochter eine offenbar ernsthafte Beziehung unterhält. Naturmagie verbindet sich mit den biblischen Endzeitboten der Apokalypse. Der Boden ist unsicher, magischer Naturgrund, gewiß, aber er ist auch zugleich historische Landschaft des 20. Jahrhunderts, mit Bohrinsel, Seenotraketen und Colabüchsen im Schlick.

Die Stunde ist Geisterstunde: Silvestermitternacht, ausgerufen in typisch zeitgenössischem Deutsch: Happy Neujahr! Und der Junge aus Büsum, der niemals wieder gefunden wird, wo ist der wohl geblieben? Sollte der wirklich nichts mit Erlkönigs Tochter zu tun gehabt haben?

Eine solche Vergleichzeitigung gibt es nur in der Poesie, und Gedichte wie dieses gelingen nicht oft. Immer sind es welthaltige, oft wirklichkeitssatte Gedichte, und fast immer ist Magie im poetischen Spiel, Sprachmagie, Traummagie – es sind Gedichte von Erlkönigs nie ganz geheurer aufmüpfiger Tochter.

(Aus: Peter Horst Neumann, Laudatio auf Sarah Kirsch, 3.4.1993)