Foto: Jens Tremmel, Marbach
Peter Horst Neumann
AUFMÜPFIG, NIE GANZ GEHEUER
Erlkönigs Tochter - der Titel ist zauberhaft, in jeder Bedeutung diese Wortes. Er hat einen Zug ins Dämonisch-Verführerische und verführt auch zum Lesen. Zaubersprüche hieß ein früherer Band, und auch Titel wie Katzenleben oder Erdreich hatten die Aura des nicht ganz Geheueren. Dieser aber ist wie ein Wetterleuchten, hervorgerufen durch zwei zitierte Worte: ein poesiegeschichtlicher Horizont (dänische Volkspoesie, Herder, Goethe) leuchtet auf. Wenn man sie beim Lesen wiederfindet, sind diese zwei Worte so vollkommen ins Gedicht eingegangen, daß zwischen dem eigenen und dem Zitat kein Unterschied mehr besteht – ein Augenblick großer Poesie.
Nebel und Watt bezeichnen den düsteren Ort eines Zusammentreffens, ernsthafte Verabredung genannt, und es wird auch geritten: je ein Reiter bei Herder und Goethe; hier aber sind es zwei Reiter, die apokalyptischen, zu denen die Erlkönigstochter eine offenbar ernsthafte Beziehung unterhält. Naturmagie verbindet sich mit den biblischen Endzeitboten der Apokalypse. Der Boden ist unsicher, magischer Naturgrund, gewiß, aber er ist auch zugleich historische Landschaft des 20. Jahrhunderts, mit Bohrinsel, Seenotraketen und Colabüchsen im Schlick.
Die Stunde ist Geisterstunde: Silvestermitternacht, ausgerufen in typisch zeitgenössischem Deutsch: Happy Neujahr! Und der Junge aus Büsum, der niemals wieder gefunden wird, wo ist der wohl geblieben? Sollte der wirklich nichts mit Erlkönigs Tochter zu tun gehabt haben?
Eine solche Vergleichzeitigung gibt es nur in der Poesie, und Gedichte wie dieses gelingen nicht oft. Immer sind es welthaltige, oft wirklichkeitssatte Gedichte, und fast immer ist Magie im poetischen Spiel, Sprachmagie, Traummagie – es sind Gedichte von Erlkönigs nie ganz geheurer aufmüpfiger Tochter.
(Aus: Peter Horst Neumann, Laudatio auf Sarah Kirsch, 3.4.1993)