Foto: Jens Tremmel, Marbach
Peter Hamm
ALLES GEHÖRT UNS
Alles gehört uns, so lautete der poetisch kindliche Kampfruf, mit dem Günter Herburger auf den Plan trat. Von diesem Alles gehört uns, das durchaus aufs Irdische gerichtet war, bis zu einem Sie müssen sich nicht mehr begnügen, das nur noch metaphysische Fülle meint, haben Günter Herburgers Gedichte bis heute einen weiten und niemals geraden Weg zurückgelegt, auf dem sie zwischen Frechheit und Feierlichkeit, Anstößigem und Andächtigem, Zornigem und Zartem immer wieder erstaunliche Verbindungen herzustellen vermochten. Dabei wuchs Herburgers Balladen des Aufbegehrens und des Unterliegens, diesen wahren Helden- und Märchengedichten zugleich, eine Kunstfertigkeit zu, die gerade in ihrer scheinbaren Kunstlosigkeit liegt, daß heißt im Verzicht auf jenes ebenso beliebte wie peinliche Poetisieren, das meist nur ein Kaschieren, ein Umlügen der Wirklichkeit ist.
Entsprechend kommt Herburger fast ganz ohne Metaphorik aus; seine Gedichte haben meist eine Tendenz zum Epischen, erzählen Geschichten, die sich manchmal sogar durchaus nacherzählen ließen. Lyriker sollten viel wissen und erlebt haben, damit sie sich getrauen, einfache Worte zu nehmen, hat Günter Herburger in seinem Aufsatz Dogmatisches über Gedichte geschrieben. Lese ich seine Gedichte, die auch mit einfachen, gebräuchlichen, ja erbärmlichen Worten oft ein Pathos erzielen, das sie weit über die Wohltemperiertheit so vieler im hohen Ton daherkommenden lyrischen Produkte hinaushebt, so ahne ich nicht nur, wie viel Herburger erlebt hat – mir wird dann auch bang um ihn. Und eigentlich, denke ich, könnte auch das ein Indiz dafür sein, einen Dichter vor sich zu haben, wenn man beim Lesen seiner Gedichte Angst um ihn bekommt. Man hat den tiefen Grund einer Sache nicht erforscht, wenn man sie nicht im Licht der Niedergeschlagenheit betrachtet, schrieb E. M. Cioran einmal. Vieles in den letzten Gedichten Günter Herburgers wirkt wie aus diesem unbarmherzigen Licht der Niedergeschlagenheit gesehen und deshalb grausam klar gesehen. Depression wäre ein eher prosaisches Wort für den Herkunftsort dieser Gedichte, Katastrophe ein anderes, doch haben Herburgers Gedichte bis heute die Fähigkeit noch nicht verloren, sich abzustoßen von ihrem finsteren Ursprung und vorzudringen in eine Art Neu- oder Niemandsland, in dem nicht mehr die Erkenntnis herrscht, aber auch nicht die Pein.
Denn als ich Kind war, war ich größer, heißt es in einem Gedicht Günter Herburgers Wir alle waren als Kinder größer. Die Vertreibung aus der Kindheit ist eine zweite Vertreibung aus dem Paradies, in dem wir groß waren – durch Unwissen. Jeder Tag zunehmender Erkenntnis machte uns ein Stück kleiner. Vielleicht war Unwissenheit das Schönste, was ich besaß, schrieb Robert Walser in seinem Prosastück Die Gedichte. Und weiter: Unkenntnis macht groß. Ich war wie ein blühendes Gewächs, das sich selbst ein Rätsel ist. Es ist diese erhöhende, diese rätselhafte paradiesische Unkenntnis, nach der im Grunde die besten Gedichte, auch die besten Günter Herburgers, immer unterwegs sind.
(Aus: Peter Hamm, Laudatio auf Günter Herburger, 3.4.1991)