Ernst Jandl

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  • geboren 1925 in Wien, gestorben 2000
  • Studium (Germanistik, Anglistik)
  • 1950 Promotion über die Novellen Arthur Schnitzlers
  • ab 1954 Bekanntschaft mit Friederike Mayröcker; 1968 erstes gemeinsames Hörspiel
  • 1956 erster Gedichtband »Andere Augen« und Entwicklung der Experimente zur Konkreten Poesie
  • ab 1963 Laut- und Figurengedichte und Verwendung von Mundart, Alltagssprache, von Sprachmaterial zwischen Gastarbeitersprache und hoher Lyrik
  • 1966 Theaterexperimente, Sprechoper, Hörspiele
  • zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Georg-Büchner-Preis 1984 und Kleist-Preis 1993
  • 2001 erscheint postum der Gedichtband Letzte Gedichte

Ernst Jandl: Idyllen

Foto: Jens Tremmel, Marbach

Urs Allemann
ERNST JANDL GEHÖRT ALLEN

Ich bin ein Lyriker ohne eigene Sprache, denn diese Sprache, die deutsche, wie jede andere übrigens, und also gilt es, wie ich es sehe, für den Dichter jeglicher Zunge, gehört nicht dem Lyriker, nicht dem Dichter, nicht dem Schriftsteller sondern allen, die in dieser und jener, jeglicher, Sprache leben, d. h. in ihr, mit ihr und durch sie Menschen, menschliche Wesen sind. Die Sprache gehört mir nicht, diese meine deutsche Sprache gehört mir nicht. Sie gehört allen, sagte Ernst Jandl...

Wenn wahr ist, daß die Sprache allen gehört, dann ist auch wahr, daß Ernst Jandl allen gehört, und so ist es in der Tat, Ernst Jandl ist einer der ganz wenigen Dichter, einer der wenigstens heute ganz wenigen Dichter, die allen gehören, zwar, auch er, Sie hören es ja, gehört den Juroren, den Laudatoren, den Kommentatoren und all den Toren, denen Autoren heute gehoren, aber Ernst Jandl gehört nicht nur den sturen Auguren mit Professuren und Sinekuren, denen die puren Literaturen samt Auturen heute gehuren, nein Ernst Jandl gehört allen, er gehört auch den Kindern, er gehört auch den Greisen, er gehört den ganz Normalen und den ganz und gar Anormalen, wobei gottseidank niemand weiß, was normal, was anormal ist, er gehört den schon Verrückten, er gehört den noch Verrückbaren, er gehört den Arbeitern, ja, ich behaupte ganz entschieden, daß Ernst Jandl auch den Arbeitern und sogar den, haben Sie sich, fragen Sie sich, verhört, Bauern gehört, und wenn es nicht dummerweise so wäre, aber es ist so, daß das Wort Volk, kaum in den Mund genommen, bestialisch, pestilenzialisch zu stinken beginnt, würde ich nicht zögern zu sagen, daß Ernst Jandl ein VED, ein volkseigener Dichter ist, was natürlich übertrieben wäre, so ist es nicht, aber so könnte es sein, so müsste es sein, und das Werk von Ernst Jandl ist eines der ganz wenigen Werke, der wenigstens heute ganz wenigen Werke, die die Erinnerung wach halten daran, daß wie die Sprache so auch die Dichtung eigentlich Eigentum aller ist, das Werk von Ernst Jandl hält den Traum fest, hält ohne faule Kompromisse mit Populismen den Traum fest von einer nichtelitären avantgardistischen Kunst, von einer experimentellen Kunst, an deren Experimenten nicht nur einige wenige Poesielaboranten, Sprachspezialisten, sondern alle teilhaben könnten, von einer Kunst auf der Höhe der Zeit, wenn Höhe nicht eh der falsche Ausdruck wäre, und zugleich auf Bodenhöhe oder nur so weit über dem Boden wie die sich öffnenden, wie die sich schließenden Münder aller.

(Aus: Urs Allemann, Laudatio auf Ernst Jandl, 3.4.1990)