Wulf Kirsten

Foto: SWR


  • geboren 1934 in Klipphausen bei Meißen
  • kaufmännische Lehre
  • 1954 erste Schreibversuche
  • Pädagogikstudium (Deutsch, Russisch)
  • 1962-1965 Forschung für das »Wörterbuch der obersächsischen Mundarten«
  • 1964 erste Gedichtveröffentlichung
  • 1965 Lektor im Aufbau-Verlag
  • 1969 Studium am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig
  • seit 1988 freier Schriftsteller
  • 2002 Lesebuch »Stimmen aus Buchenwald«
  • zahlreiche renommierte Literaturpreise, u. a. Heinrich-Mann-Preis 1989, Eichendorff-Literaturpreis 2004 und Joachim Ringelnatz-Preis 2010
  • 2012 erscheint der Gedichtband »fliehende ansicht«

Wulf Kirsten: Die Erde bei Meißen

Foto: Jens Tremmel, Marbach

Peter Horst Neumann
NATURLYRIK HEUTE

Vielleicht brauchte es wirklich Mut, aus dörflich-kleinstädtischem Milieu stammend – als armer / karsthänsenachfahr wie er sich nennt -, überhaupt Verse zu schreiben und die Behauptung ‚Ich bin ein Dichter’ gegen jeden Widerstand durchzusetzen. In satzanfang gibt er uns zu wissen, daß er seine Richtung, sein Thema gefunden hat, mitten im Schreiben. Er verbindet seine soziale Herkunft mit seiner selbstgewählten Bestimmung, indem er saataufgang und satzanfang, Feld und wortfeld in eine Gleichung stellt. Es ist, nebenbei bemerkt, eine sehr alte Gleichung: die sympathetische Analogie von Agrikultur und Sprachkunst, die uns in der lateinischen Bedeutung des Wortes Vers überliefert ist – Furche und Zeile. Aber diese Gleichung wird nicht in artistischer Unverbindlichkeit memoriert. Es ist nicht der Blick des Städters, der hier über Schreibtisch und Bücherbord auf Felder sieht. Kirsten hat in entgegengesetzer Blickrichtung diese Analogie von Feld und Wortfeld, Furche und Zeile begriffen – von den eigenen, gar nicht intellektuellen Anfängen her. Er will das ihm Nächstliegende zur Sprache, die biografien aller sagbaren dinge ans Licht bringen; er will Menschen, die keine resonanznamen haben, Leuten vom Dorf, standbilder aus Worten errichten, will inständig benennen. Nichts anderes, unabhängig von allen Sujets, ist die Bestimmung der Poesie. Und nichts ist leichter, als an solchen Vorsätzen zu scheitern; hier liegen Vergeblichkeit und Gelingen dicht beieinander, es kann nicht anders sein. Aber in seinen besten Gedichten gelingen Wulf Kirsten tatsächlich inständige Bennennungen, Biographien sagbarer Dinge, auch Standbilder aus wortfiguren.

Das Reden über die Natur und der Gebrauch von Naturvokabeln, die zum ältesten Bestand der Dichtung gehören, hat in den letzten beiden Jahrzehnten, und wohl für immer, eine neue Qualität angenommen – die Qualität der gefährdeten Natur als Umwelt. Sind wir etwa noch unbeirrt imstande, Natur als den uns vorgegebenen, der Menschengeschichte enthobenen, sie umgreifenden Raum zu erleben? Sie hat aufgehört oder ist doch rapid im Begriffe aufzuhören, uns jene lebenswichtige Erfahrung zu vermitteln, daß es etwas Beständigeres gibt als Kultur und Zivilisation: eine andere Zeitlichkeit, daneben und darüber, eine, in der die Vergänglichkeit eine andere Dauer hat, ein wenig näher an der Ewigkeit als unsere eigene. Wer möchte leben ohne den Trost der Bäume! heißt es in einem Gedicht bei Günter Eich, und: Wie gut, daß sie am Sterben teilhaben. Diesen Versen eines Naturlyrikers von vor dreißig Jahren fallen unsere Erfahrungen und Ängste heute ins Wort. Wenn es noch nicht so ist, könnte es doch bald so weit sein, daß von den Dingen der Natur, vorab von den Bäumen, im Naturgedicht nur noch als von etwas gesprochen wird, das nicht mehr tröstend teilhat an unserem Sterben, weil es sein Sterben uns verdankt. Uns – einem kollektiven Subjekt, das jedem Einzelnen suggeriert, er sei schuld- und verantwortungslos. Daraus ergibt sich eine neue Qualität nicht nur der Natur- und Landschaftslyrik. In Kirstens Gedichten ist sie bereits da.

(Aus: Peter Horst Neumann, Laudatio auf Wulf Kirsten, 3.4.1987)