Foto: Jens Tremmel, Marbach
Peter Horst Neumann
MITLEID, TRAUER UND EMPÖRUNG
Die Arbeit des Dichters im Material der Sprache – in einem prinzipiell entfremdeten Material, wie man weiß – die Arbeit des Dichters hat ihr Ziel in der Kenntlichkeit, in der Selbstvergewisserung des Schreibenden.
Er weiß, daß die eigene unverwechselbare Sprache ein nur mühsam erreichbares Ziel ist. Mit einer bestimmten Machart, einem stilistischen Markenzeichen, einer reproduzierbaren Manier, ist sie noch lange nicht gewonnen. Zu manchem Gedicht, sagt Guntram Vesper, seien an die 50 handschriftliche Fassungen nötig gewesen, und das Manuskript für den Gedichtband Die Illusion des Unglücks habe ausgesehen, als sei da ein Roman von 600 Seiten im Entstehen gewesen. Und am Ende: 50 Gedichte, von denen vielleicht einige dem selbstgestellten Anspruch genügen, nämlich der eigenen unverwechselbaren Sprache etwas näher zu kommen. Er sagt: Das Zwiegespräch zwischen den Wörtern auf dem Papier und mir, der ich undeutlicher und reicher bin, macht mich vor mir selber wahrnehmbarer!
Seine Gedichte aber seien nicht etwa Widerspiegelungen von Erlebnissen, sondern von Empfindungen, von Mitleid, Trauer und Empörung...
Woran wird unser humaner Wert, der humane Wert unseres Lebens gemessen? Vespers Text sagt: Mitleid, Trauer und Empörung – daran, also an jenen sozialen Affekten, mit denen Menschen auf Leiden, Verluste und Unrecht antworten. Ohne diese sozialen Affekte ist unser Leben nicht wert, erinnert zu werden. Dann, so wird uns gesagt, dürfen wir es nicht beschreiben. Aber wir wollen, wir müssen erzählen. Die Sprache ist uns gegeben, damit wir uns füreinander erinnern. Dann werden wir also erinnerungswürdig zu leben haben: trauerfähig, mitleids- und empörungsbereit. Hier werden also Leben und Erzählen, Sittlichkeit und Ästhetik ununterscheidbar in eins gesetzt – dies ist ein sehr kategorischer Imperativ. Ihm zu gehorchen, dürfte ebenso schwerfallen, wie es schwerfällt, sich ein Land vorzustellen, das ein Meer ist, oder ein Meer sich vorzustellen, das Land ist. Aber gerade dieses Wort Landmeer hat Guntram Vesper seinem Text als Titel gegeben, ein Wort, das unsere sinnliche Einbildungskraft ebenso in Spannung versetzt wie der Spruch, der darauf folgt, unsere moralische Einbildungskraft umtreiben muß: wir sollen die Einheit des Unvereinbaren herzustellen versuchen. Das wird uns mißlingen, gewiß, aber der Wunsch, daß es gelingen möge, dieser Wunsch soll in uns wach bleiben. Die Vereinigung von Land und Meer zu einem Landmeer – sie müßte eine andere Erde ergeben.
(Aus: Peter Horst Neumann, Laudatio auf Guntram Vesper, 3.4.1985)